F: Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich in punkto Bürger:innenbeteiligung da?

A: Die Frage ist, in welcher Zeit, in welchem Umfeld wir gerade leben und was bewegt. Davon hängt immer sehr stark auch das Engagement und die Beteiligung der Bürger:innen ab. Wenn ein Land in einem ruhigen Fahrwasser ist, wenn alles geordnet erscheint, dann ist das Partizipationsinteresse naturgemäß in der Bevölkerung nicht so hoch wie in einer Zeit, die mehr bewegt. Deshalb sind das Wellenbewegungen und da möchte ich mich auch nicht trauen, zu sagen, die sind da weiter vorne, die sind besser oder schlechter.

Tatsache ist für mich, und deswegen ist es so wichtig, dass wir darüber sprechen, und deshalb ist Ihre Arbeit so wichtig, dass wir in Deutschland nicht in einer Wellenbewegung sind, sondern in einem Sinkflug. Denn bei uns in Deutschland wird Partizipation, wird das Interesse der Bevölkerung für lokale Themen und lokale Demokratie geringer – und damit auch das Engagement in kommunale Vertretungen. Der Sinkflug, in den wir eingetreten sind, ist nicht ungefährlich. Ein weiteres Sinken bedeutet, man setzt irgendwann auf. Der Vorteil ist, wir müssen auch nicht hektisch am Ruder ziehen. Aber mir macht das Sorge.

F: Warum ist digitale Partizipation aus Ihrer Sicht dann so wichtig – jetzt, zu diesem Zeitpunkt?

A: Ich bin überrascht, aber viele, die Verantwortung für Partizipationsprozesse und für Demokratie tragen, verstehen es nicht: Wir hängen Menschen ab. Wir hängen ganze Generationen ab – wie die Generation Z. Die sind analog nicht zu erreichen, das muss man einfach verstehen. Das macht diese Menschen weder intelligenter, noch dümmer, die sind nur anders.

Und wir tun so, als ob die Generation Z sich genauso informieren müsste, und genauso kommunizieren, wie wir das gemacht haben – das ist ein großer Fehler.

Darüber hinaus verändert sich Gesellschaft insgesamt sehr stark: Auch Menschen mit Migrationshintergrund haben ein anderes Informations- und Kommunikationsverhalten, lesen eher nicht die Lokalzeitung. Auf diese veränderte, digitalere Gesellschaft nehmen Partizipationsprozesse keine Rücksicht. Insbesondere die Arbeit von kommunalen Vertretungen – z. B. Rats- oder Ausschusssitzungen – nehmen vollkommen unzureichend Rücksicht. Und deswegen funktionieren Partizipationsprozesse an den Stellen nicht ordnungsgemäß.

Die Einladung um 18 Uhr in die Stadthalle, um dort jemandem zuzuhören, der etwas über die Möglichkeiten der lokalen Energiewende berichtet? Das mag vom Thema Spannung haben, aber nicht vom Format! Wenn ich das aber als digitale oder hybride Veranstaltung anbiete, dann werde ich mehr Menschen erreichen können.

Und deswegen ist digitale Partizipation wichtig, weil sie niedrigschwelliger ist, weil sie anders ist, weil sie überhaupt ja Wege zu der Stadtgesellschaft aufzeigt, die man gehen kann. Und da sind wir in den Kommunen nicht da, wo wir sein müssten.

Kommunen sollten ihre Partizipationsformate den Bedürfnissen einer digitaleren Gesellschaft anpassen.

F: In Ihrer Erfahrung als ehemaliger Oberbürgermeister, jetzt Professor für Kommunalrecht an einer Verwaltungshochschule – was braucht es aktuell oder schnellstmöglich?

A: Es braucht jetzt sehr schnell zwei Dinge:

  1. Einmal brauchen wir an vielen Stellen die Landesgesetzgeber. Diese Landesparlamente müssen in ihren Gemeindeordnungen/Kommunalverfassungen Möglichkeiten für die Kommunen eröffnen, die bestehenden neuen Wege auch zu gehen. Damit meine ich insbesondere das kommunale Mandat: Die Mitarbeit in Gemeinderäten, Stadträten, Kreisräten attraktiv und zeitgemäss zu machen. Wir können nicht immer nur bejammern, dass zu wenig Frauen und zu wenig junge Menschen in Stadträten sitzen. Aber unsere Prozesse sehen so aus: Sitzungen, die um 17 Uhr starten und bis 23 Uhr gehen und es wird geredet, geredet, geredet. Während zuhause die Kinder Abendbrot essen wollen.
  2. Das zweite ist das, was Kommunen selbst machen können und müssen. Es gibt ein Öffentlichkeitsgebot. Kommunale Sitzungen, kommunale Entscheidungen – das ist immer öffentlich, das ist Grund- und Kerngedanke der Demokratie. Aber das, was man macht, erreicht die Öffentlichkeit oft gar nicht mehr. Da muss v.a. auch digitale Partizipation ermöglicht werden, damit alle angesprochen werden. Und man kann ganz viel digitale Teilhabe ermöglichen, ohne dass große Änderungen in Hauptsatzungen oder Geschäftsordnungen beschlossen werden müssen. Denken Sie z.B. an das Format der Einwohner:innenfragestunde; was bei jeder Kommunalverfassungen vorgeschrieben ist.
Mit Verlaub, ist das denn heute erforderlich, dass ich mich eine halbe Stunde vor der Sitzung ins Auto setze, irgendwohin fahre, wo diese Gremiensitzung ist. Mich hinsetze, warte bis ich aufgerufen werde, meine Frage stelle, die Antwort bekomme, dass sich die Verwaltung damit beschäftigt und eine schriftliche Antwort bekomme und dann wieder gehen darf? Also warum gibt man hier nicht die Möglichkeit, von zuhause diese Frage zu stellen? Warum gibt man mir nicht die Möglichkeit, eine Sitzung digital zu verfolgen, möglicherweise über Kommunikations- und Chatfunktionen teilzuhaben an dem, was diskutiert wird.

F: Sie schreiben auf Ihrer Website: Die Zukunft der Kommunen liegt in Kooperationen. Was genau meinen Sie damit?

A: Die Themen der Kommunen werden immer komplexer. Finanzielle Handlungszwänge werden nicht kleiner, aktuell eher größer. Corona, Krieg – das muss finanziell bewältigt werden. Das trifft vor allem die Kommunen. Ich kann heute, um all die vielfältigen und komplexen Themen zu durchdringen, nicht einfach nur neues, zusätzliches Personal einstellen. Denken Sie an aktuelle Themen wie Energiewende, Verkehrswende, Klimaschutz. Ich hab doch gar nicht die Möglichkeit, in jeder kleinen Kommune eine:n Energiemanager:in und eine:n Klimamanager:in, Einheiten und Profis für genau diese Herausforderungen einzustellen.

Wenn ich kommunale Strukturen immer größer mache, geht viel von dem verloren, was kommunale Selbstverwaltung ausmacht und was Spannung an lokaler Demokratie erzeugt: Nähe. Dass ich mal zum Bürgermeister gehen kann, dass ich die Mitglieder des Stadtrates kenne, dass man vor Ort tatsächlich miteinander arbeitet.

Und deshalb sollten wir einfach mehr Themen durch interkommunale Zusammenarbeit und Kooperationen lösen, und begreifen, dass dieses Kirchturmdenken nicht funktioniert und das regionales Vernetzen sinnvoll ist, gerade bei den eben genannten Themen. Und vor Gebietsreformen sollten wir Kooperationen denken und die stärker machen. Weil unsere öffentlichen Verwaltungen sonst nicht so stark sind, wie sie sein könnten.

Sich in Gemeinderäten, Stadträten oder Kreisräten einzubringen,muss auch für junge und diversere Zielgruppen attraktiver und zeitgemässer werden.

F: Was sind Ihre 3 Tipps für Kommunen, die gerade erst mit digitaler Beteiligung beginnen?

  1. Mut haben! Und sich ausprobieren. Zusammen mit der Überzeugung, dass es wichtig ist, in digitale Arbeit einzusteigen, um mehr Menschen zu erreichen. Niedrigschwelligere Angebote zu machen und sich gewiss zu sein, dass die Probleme oder die Herausforderungen nicht so groß sind, wie man immer glaubt. “Wie ist das mit dem Datenschutz, wie ist das mit den Kosten, wie ist das mit der Kamera, wie ist das mit der Bedienung?” Das ist alles gar nicht so kompliziert, einfach loslegen und machen!
  2. Hart dafür zu arbeiten, dass sich die Kommunalparlamente selbst verändern. Im Kreis von nur 60 oder 70-Jährigen denke ich über digitale Themen und Gremiensitzungen anders, als wenn da vielleicht auch mal 5 oder 6 drin sind, die noch keine 30 sind. Aber dafür müssen Türen aufgehen, da müssen junge Menschen eingeladen werden dazu, sich in diese kommunale Vertretungen wählen zu lassen. Da wird sehr viel geblockt, da werden Türen zugemacht. Das ist die zweite dringende Empfehlung: Dass man genau da ansetzen muss, wo Entscheidungen darüber getroffen werden, wie digitale kommunale, lokale Arbeit auch stattfinden kann.
  3. Nicht vergessen, dass es sehr viele Menschen in Deutschland gibt, die noch ganz analog unterwegs sind. Die keinen Zugang zu digitalen Partizipationswegen finden. Und dass wir die immer Blick behalten müssen. So wie wir aktuell viel zu wenig die Generation Z betrachten mit ihren digitalen Wegen. So darf die Zukunft jetzt auch nicht sagen: Wir machen ab morgen alles nur noch digital und der, der da keinen Zugang hat, hat Pech gehabt! Wir brauchen beide Formen jetzt, in der Zeit, in der wir leben. Wir brauchen hybride Wege und Formen. Wir müssen springen können – so, wie wir es in unserer Berufswelt aktuell auch machen: Springen zwischen digitalem Arbeiten von zuhause und Präsenz im Büro. Und je nach Tagesform und Arbeit, die anfällt, wechseln wir.

F: Was waren Beteiligungsprojekte aus Ihrem regionalen Umfeld, an die Sie gerne denken?

A: Das für die Stadt Goslar gesprochen komplexeste Stadtentwicklungsprojekt, was erst durch die Beteiligung der Bürger:innen zu dem geworden ist, was es wird, ist der Umbau des Pfalzquartiers, eines großen, sehr bedeutenden innerstädtischen Areals unmittelbar neben der Kaiser-Pfalz – also mitten im Welterbe. Da war die Frage, was sich an einem ehemaligen, nicht mehr benötigten Bundesgrenzsschutzstandort entwickeln soll.  Wohnen, oder ein Hotel oder ein Museum oder ein Zentrum für zeitgenössische Kunst oder ein Bürgerpark?

Durch die Bürger:innenbeteiligung wurde klar, was gebraucht wird: Eine Begegnungsstätte, eine Stadthalle, ein Ort für Kultur und Events. Da hat Beteiligung und das Engagement der Bürger:innen eine Idee, die im Rathaus entwickelt worden ist, nochmal stark verändert. Bürger:innenbeteiligung ist in einer repräsentativen Demokratie eben viel mehr, als alle 5 Jahre bei einer Wahl ein Kreuz  zu machen. Partizipation bedeutet u.a., die Entscheidung meiner Repräsentant:innen auch zwischen Wahlen genau zu dem zu machen, was nachher gute Ergebnisse hervorbringt.

Partizipation bedeutet viel mehr, als alle 5 Jahre zu wählen. Kommunen können von vielfältigen Kommunikationswegen zu Ihren Bürger:innen nur profitieren.

Noch ein anderes, kleines Beispiel für Partizipation aus meiner Zeit als OB: Ein Anwohner kam auf mich zu und klagte über die zu schnell fahrenden Autos vor seiner Haustür. Mir gingen die Ideen aus, wir hatten schon oft einen mobilen Blitzer dort platziert, hatten eine Tempoanzeige mit Smileys aufgehängt. Nichts verbesserte die Situation. Dann schlug der Mann vor, an der Stelle Parkplätze abzumarkieren. Es gäbe ohnehin Parkdruck und alleine dadurch, dass da Autos stehen würden, müssten die Fahrzeuge ihr Tempo drosseln.

Ich hatte erst Bedenken, sprach dann aber mit meiner Verkehrsbehörde. Kurzum, die sagte, der Gedanke scheint klug. Wir starteten dann einen Versuch, mit gelber Markierung. Heute ist das ganz selbstverständlich Parkraum. Das ist auch nicht mehr gelb, sondern weiß. Wir haben mehr Parkraum, die Autos fahren langsamer, alle sind zufrieden. Nur weil ein Bürger eine gute Idee hatte und die an den Entscheider direkt und unmittelbar heranbringen konnte.

Es braucht diese Kommunikationswege! Und diese Wege hab ich in meiner Rolle als OB klassisch analog angeboten, über Bürger:innensprechstunden in meinem Rathaus. Es gab Telefonsprechstunden und auf Instagram und Social Media war ich auch aktiv. Und wenn es da zu einer Reaktion kam und es mich nicht total überfordert hat, hab ich die Dinge auch aufgenommen und versucht, sie abzuarbeiten. Ich bin viel kritisiert worden vor 10 Jahren.

Als ich angefangen hab, 2011 hieß es: Dieser Twitter-OB oder Facebook OB – dafür hat der Zeit. Rückblickend betrachtet finde ich das immer noch schade. In einer Studentenstadt hätte das schon eine ganz andere Resonanz gefunden. Aber in einer Stadt, die eben keine Fachhochschule oder Hochschule hat und von eher konservativen, älteren Menschen geprägt ist, hat das auch in der Lokalzeitung einen eher schrägen Touch bekommen. Weil nicht verstanden wurde, dass ich Instagram nicht nutze, um mein Mittagessen zu fotografieren, sondern um politische Arbeit transparent zu machen und Partizipationswege zu öffnen.

F: Letzte Frage: Was sind Ihre Lese- und Informationsgewohnheiten, um selbst immer gut informiert zu sein?

A: Ich lese jeden Morgen mit großer Begeisterung die Süddeutsche Zeitung im Print am Frühstückstisch. Am Wochenende lese ich immer die Zeit, auch Print. Dann lese ich den Spiegel, aber nur online. Ich lese viel bei Twitter und höre NDR info. Ich schaue keine Nachrichten im Fernsehen und ich hasse Talkshows. Ich fühle mich so hinreichend informiert.

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