Hier in Vorarlberg wird eine neue Art der Politikgestaltung vorangebracht. Bürger*innen und Interessengruppen in politische Fragen einzubinden, wird als ein so fixer Bestandteil betrachtet, dass Bürger*innenräte 2013 sogar in der Landesverfassung Vorarlbergs verankert wurden.
Bürger*innenräte sind in Vorarlberg also nichts Neues. Doch jetzt will man sie um mehr Online-Formate ergänzen. Da kommen wir von Go Vocal ins Spiel!
Bürgerräte 1.0
In Vorarlberg fand 2006 der europaweit erste Bürger*innenrat überhaupt statt. In der Gemeinde Wolfurt ging es damals um Fragen der Lebensqualität und des Lebensstandards. Seither sind Bürger*innenräte in der Region nicht mehr wegzudenken. 2011 wurde auf Landesebene ein halbjährlicher Bürger*innenrat eingeführt. 2013 dann die bereits erwähnte Verfassungsänderung. Im Vorarlberger Landtag wurde die „partizipative Demokratie“ verankert. Die Bürger*innen Vorarlbergs erhielten somit eine offizielle Möglichkeit sich in politische Entscheidungen einzubringen. Kein anderes europäisches Land hatte bisher Bürger*innenbeteiligung in die Verfassung geschrieben. In Vorarlberg wurden inzwischen 60 Bürger*innenräte realisiert – das ‚Vorarlberger Modell‘ ist damit längst Teil der DNA des Bundeslandes. Aber was genau ist dieses ‚Vorarlberger Modell‘?
Der Bürgerrat à la Vorarlberg: Mehr direkte Demokratie
In Vorarlberg kann ein Bürger*innenrat mit 1000 Unterschriften initiiert werden, wobei die Initiator*innen aus allen Teilen der Bevölkerung kommen können. Es gibt auch die Möglichkeit, dass der Landtag oder die Landesregierung einen Bürger*innenrat beauftragt.
In dem Bürger*innenrat arbeiten 15 bis 20 Personen 1,5 Tage (oder länger) gemeinsam an einer Fragestellung, zu der sie am Ende zu einem gemeinsamen Urteil finden.
Dabei sind im Vorarlberger Modell alle Elemente des Kernprozesses genau beschrieben. Das beinhaltet bspw. die zufällige Auswahl der Bürger*innen per Los oder nach bestimmten Repräsentativitäts-Kriterien, die Methodik bei der Durchführung des Bürger*innenrats und des daran anschließenden Bürger*innen-Cafés. Es legt die Informiertheit der Resonanzgruppen fest, sowie die konstante Kommunikation und Rückmeldung an alle Teilnehmenden über den gesamten Prozess (und darüber hinaus).
Die einzelnen Schritte der Beteiligung im Vorarlberger Bürgerrat
Schritt 1: Bürger*innenrat
Fester methodischer Bestandteil der Vorarlberger Bürger*innenräte ist die Moderation, die die Methode „Dynamic Facilitation“ anwendet – d.h. am Ende von Diskussionen und Aushandlungen mündet ein Bürgerrat immer in einem Konsent (im Gegensatz zu einem Kompromiss). Aus diesem Konsent entwickeln alle Teilnehmenden zusammen ein abschließendes Statement.
Schritt 2: Bürger*innen-Café
Das Statement (oder Bürger*innengutachten aus dem Rat) wird anschließend im „Bürger*innen-Café“ einem größeren Publikum vorgestellt. Es ist ein öffentlicher Termin, an dem alle interessierten Menschen teilnehmen können. Angelehnt an die Methode „World Café“ folgt es einem dialogischen Konzept. Hier wird nicht nur präsentiert, sondern auch kommentiert. Das heißt: die Öffentlichkeit kann die Vorschläge des Bürger*innenrates befürworten oder ablehnen.
Schritt 3: Resonanzgruppen
Hiernach werden die Vorschläge des Bürger*innenrats in einer Sitzung der „Resonanzgruppe“ – eine Strategiegruppe, die sich aus politischen Vertreter*innen, Verwaltung, NGOs, Expert*innen etc. zusammensetzt. Die Resonanzgruppe prüft die konkrete Machbarkeit und Umsetzung und gibt dann die Handlungsempfehlung an die Landesregierung weiter.
Schritt 4: anschließende Umsetzung durch die Landesvertretung
In Vorarlberg steht den Bürger*innenräten eine eigens dafür zuständige Stelle im Land zur Seite: das Büro für freiwilliges Engagement und Beteiligung (FEB). Dieses begleitet den gesamten Prozess, es leitet an, moderiert, kommuniziert. Jedes Jahr begleitet das FEB ein bis zwei landesweite Bürger*innenräte.
Michael Lederer – Leitung des FEB – empfiehlt, die Hemmungen von Politiker*innen vor zu viel Bürgerbeteiligung und Machtabgabe ernst zu nehmen und in der Vorbereitung gut darauf einzugehen. Oft würden Vorbehalte nicht artikuliert und hemmen den weiteren Verlauf der Beteiligung. Eine frühzeitige Einbindung der Entscheidungsträger*innen kann für den Erfolg eines Prozesses entscheidend sein.
So weit, so analog. Wie wird aus diesem Vorarlberger Modell nun eine 2.0-Version. Sprich, welche Maßnahmen plant Vorarlberg, um den gesamten Prozess der Beteiligung hybrider zu gestalten?
Vorarlberg auf dem Weg in hybride Beteiligung: Bürgerrat 2.0
10 Jahre nach der einstigen Verfassungsänderung stärkt das Büro vermehrt den Fokus auf Online-Maßnahmen und nutzt dafür unsere Beteiligungsplattform.
Wenngleich Bürger*innenräte klassischerweise Offline-Formate sind, kann man sie mit einer Online-Plattform digital begleiten und optimal ergänzen. Gut platzierte Online-Beteiligung rund um Bürger*innenratsprozesse wird die Reichweite der Interessengruppen und somit die Wirkung der Bürger*innenräte erhöhen.
Das FEB plant die Verknüpfung von Online und Offline dort, wo es stimmig mit dem Projekt und den beteiligten Interessengruppen ist. Und wo es sich an Prozessschritte gut anpassen lässt. Das aktuelle Bürger*innenratsprojekt „Schulen für die Kinder und Jugendlichen unserer Zeit“ ist dafür wie geschaffen.
Vorarlberg macht Schule: Jugendthemen und Jugendbeteiligung mit Bürger*innenrat
Mit dem Thema Schule geht es für Vorarlberg nun in die Beteiligung 2.0. Mit einem Bürger*innenrat soll das Schulsystem weiterentwickelt bzw. reformiert werden. Wir bei Go Vocal freuen uns sehr, Vorarlberg bei diesem Vorhaben zur Seite zu stehen und mit unserer Digital-Expertise zu begleiten!
Zustande kam dieses Vorhaben über eine Petition, die sich an die Landesregierung Vorarlberg richtete. Hinter der Petition steht ein Zusammenschluss aus Landeselternverband, Familienverband und der LandesschülerInnenvertretung Vorarlberg.
Das Anliegen der Petitionsinitiator*innen ist die Einberufung eines Bürger*innenrats, mit dem geklärt werden soll, was Schule heute braucht, um den Anforderungen der heutigen Zeit besser standhalten zu können. Und wie positive Veränderungen gemeinsam unterstützt werden können.
Ende Juni 2023 haben die Initiator*innen des Bürger*innenrats über 1000 Unterschriften an die Landesverwaltung übergeben.
Stimmiger Auftakt: Mit hybrider Beteiligung in die Schulreform
Der erste Schritt ist gemacht. Nun kann es mit der ergänzenden Beteiligungsplattform weiter gehen, um den Bürger*innenrat „Schulen für die Kinder und Jugendlichen unserer Zeit“ mit voller Kraft umzusetzen.
In der nächsten Phase ist eine Online-Befragung geplant. Gerade Lehrer*innen, Eltern und Schüler*innen – hoch digitalisierte Zielgruppen – sind besonders vom Thema betroffen. Ihre Meinungen und Sichtweisen sind für den weiteren Prozess besonders relevant. Deswegen ist die Ansprache an die unterschiedlichen Zielgruppen jeweils verschieden.
An sie und andere Bürger*innen ging vorab der gute alte Einladungsbrief. Darauf ist ein QR-Code, der auf die Online-Plattform führt. Auf dieser finden die eingeladenen Personen alle wichtigen Informationen zum Bürger*innenratsprozess und zu den Aufgaben der Bürger*innenräte. Und auch ein Erklärungsvideo, das sämtliche Schritte erläutert.
Wenn die ersten Berührungen mit der Plattform geschafft sind, werden alle weiteren Bürger*innenrats-Phasen zusätzlich auf der Plattform begleitet. Hier werden auch die Workshops für Schüler*innen unter 13 Jahren angekündigt, die dann wiederum Vor-Ort, also analog, stattfinden.
Die Beteiligungsplattform zeigt die einzelnen Partizipationsetappen des Bürger*innenrat-Projekts “Schulen für Kinder und Jugendliche unserer Zeit” an.
Bürger*innenrat digital mit der Go Vocal-Plattform begleiten
Die zufällig ausgewählten Bürger*innen erhalten in den Wochen vor dem Rat immer wieder kompakt aufbereitete Daten, Fakten und Informationen zum Thema. Das können Umfrageergebnisse der relevanten Zielgruppen sein (Schüler*innen, Lehrpersonal, Eltern etc.).
Die spätere Komponente „Bürger*innen-Café“ ist besonders geeignet dafür, den Bürger*innenrats-Prozess zusätzlich digital zu öffnen. Zum Beispiel, indem Kommentare digital gesammelt und gebündelt werden können, von der Plattform analysiert und im Anschluss online zugänglich gemacht werden. Das spart dem Beteiligungsbüro einerseits enorm viel bürokratischen Aufwand und erhöht die Transparenz, da die gesamte Gemeinschaft sehen kann, was die Leute zu dem Thema zu sagen haben. Auch die Resonanzgruppe soll online eingebunden werden.
Alle anderen Etappen können mithilfe der Beteiligungsplattform ideal kommuniziert werden. Somit haben Interessierte genau im Blick, an welchem Punkt des Prozesses man gerade steht. So viel Transparenz kann wirklich Schule machen!
Wir sind sehr gespannt, welche konkreten Ideen aus diesem Bürger*innenrat erwachsen. Klar ist jedenfalls: Wenn Bürger*innen die Werkzeuge gegeben werden, demokratische Veränderungen direkt in Gang zu setzen, dann machen sie davon Gebrauch. Vorarlberg ist eine Region mit Beteiligungsgeist geworden.
Aus Vor-arlberg wird Vor-reiter – oder ein Vor-bild für Beteiligungskultur in Europa. Auch deutsche Städte und Kommunen dürften viel Interesse haben, wird das Thema Bürger*innenräte doch auch hier immer präsenter. Beispiele sind der bundesweite Bürgerrat Ernährung, das Projekt Wahlkreisräte von Es geht LOS, aber auch viele Beispiele auf lokaler Ebene, wie die Bürgerräte Klima in Erlangen oder Wien. Bürger*innenräte sind ein wichtiges Zukunftskonzept für die Stärkung von Demokratien, gerade in Zeiten von sinkendem Vertrauen in öffentliche Verwaltungen und politische Vertreter*innen. Bürger*innenräte schaffen positive Erlebnisse, die Empathie und Dialogfähigkeit fördern.
Wir sind gespannt auf die Reise in Vorarlberg und freuen uns schon auf März 2024, wenn das Projekt „Schulen für die Kinder und Jugendlichen unserer Zeit“ in der Umsetzungsphase ist.
Lassen Sie sich auch von diesen Fällen inspirieren:
- Online, inklusiv & lokal: Junge Menschen in Politikgestaltung einbinden
- Bürgerbeteiligung in Coburg: Ein erfolgreiches zweites Jahr Green Deal dank hybrider Beteiligung
Gruppenfoto Bildquelle: © Michael Kreyer, Land Vorarlberg