Gent kann auf eine lange Tradition der Partizipation zurückblicken. In jüngster Zeit hat die Stadt nicht nur ihr Budget für Partizipationsprojekte verfünffacht, sondern auch ein umfangreiches Team von Partizipationsexpert:innen und sog. Nachbarschaftsdirektor:innen zusammengestellt. Mit ihrer Hilfe soll die Mitgestaltung durch die Bürger:innen noch einfacher werden. 2020 fand die schon zweite Auflage des Projekts „Het Wijkbudget“ statt – zu deutsch: “Der Nachbarschaftshaushalt”.
Gents Nachbarschafthaushalt war mit dem Ziel verbunden, die Stadtviertel zu verbessern. Dafür gab die Stadt ein Gesamtbudget von 6,25 Millionen Euro frei – pro nachbarschaftlichem Gebiet waren das zwischen 150.000 und 350.000 Euro.
Auf diesen Fall aus unserem Nachbarland Belgien möchten wir ein Schlaglicht werfen. Denn das Genter Beispiel lässt sich gut auf kleinere und größere Städte und Kommunen auch in der DACH-Region übertragen.
Es geht um die Nachbarschaft
Und so ging es mit der Beteiligung los: Die Bürger:innen wurden gebeten, sich mit ihrer Nachbarschaft, mit ihrem Stadtteil auseinanderzusetzen – und zwar kritisch. Die Fragen dazu lauteten: Was würden Sie ändern? Wo liegen die Probleme und Chancen? Was kann verbessert werden, und wovon sollte es weniger geben? Anschließend wurden die Bewohner:innen aufgefordert, ihre Ideen auf der städtischen Beteiligungsplattform zu teilen, die zum Online-Drehkreuz der Genter Beteiligungsstrategie geworden ist. Die Voraussetzung: Grundsätzlich ist alles ist möglich, aber um für die Umsetzung der eingebrachten Ideen in Frage zu kommen, müssen die vorgeschlagenen Projekte von den Bewohner:innen des Viertels unterstützt werden. Neben diesem Votum müssen die Ideen zudem innerhalb von zwei Jahren realisierbar sein.
“Alle Bürger:innen, jeder Verein, jede Organisation oder Unternehmen aus Gent – jede:r kann eine Idee entwickeln und teilen. Durch den Dialog und die Zusammenarbeit mit der Stadt und allen, die denken, träumen und machen wollen, werden diese Projekte weiter entwickelt und umgesetzt.”
Ein schlauer Schachzug: die Stadtverwaltung stellte große, bunte Stühle auf der Gras- und Korenlei auf. Die Idee: Einwohner:innen sollten ihre Stadt aus anderen Perspektiven wahrnehmen. Die groß angelegte Sensibilisierungskampagne zur Einführung erhielt in der Presse viel Aufmerksamkeit.
Ko-Kreation und sozialer Zusammenhalt
Das unmittelbare Ziel von ‚het Wijkbudget‘ bestand aus der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger, es ging um die Mitgestaltung und Verbesserung ihrer Stadtteile. Mit dem Nachbarschaftsbudget sollte aber auch der soziale Zusammenhalt in den Vierteln gestärkt werden. Gent unternahm besondere Anstrengungen, um gefährdete soziale Gruppen zu erreichen, denn auch von ihnen wollte man die Meinung zu Verbesserungen hören. Damit sollte gezeigt werden, dass die Stimme jede:r einzelnen Bürger:in gleich wichtig ist, dass aber oft nicht jede:r Bürger:in die gleichen Chancen hat, sich zu beteiligen. Sicherzustellen, dass die Beiträge aus der Öffentlichkeit repräsentativ auch für die vielfältige Identität einer Stadt oder Kommune sind, ist eine zentrale Aufgabe der Verwaltungen, wenn es um Beteiligung geht. Gent hat das begriffen.
Nachbarschaftsgremien – zur Förderung von Vielfalt
Eine der Möglichkeiten, um sicherzustellen, dass verschiedene Stimmen gehört werden, ist die Einrichtung von Nachbarschaftsgremien. In zwei gefährdeten Genter Stadtteilen, Muide-Meulestede-Afrikalaan und Drongen, organisierte die Stadt deswegen gezielt Gemeinschaftspanels, die aus jeweils 20 Einwohner:innen bestanden.
Zunächst wurden dafür 500 Personen ausgelost und per Telefon kontaktiert. Um eine möglichst hohe Repräsentation zu gewährleisten, stellte die Verwaltung den Kandidat:innen einige Fragen hinsichtlich ihrer Familienzusammensetzung, zu ihrer Bildungsgeschichte und anderen persönlichen Merkmalen. Aus dieser großen Gruppe wurden anschließend 20 Menschen als Vertreter:innen ihrer Viertel ausgewählt. Dabei wurde sorgsam darauf geachtet, dass die Gruppe aus einer großen Vielfalt in Form von Alter, kulturellen und sozialen Hintergrund, Geschlecht usw. bestehen würde.
Die Bürgerinnen und Bürger des Nachbarschaftsgremiums trafen sich anschließend ein Jahr lang regelmäßig. Sie setzten sich mit den eingereichten Projekten auseinander und gaben Empfehlungen – immer auf Grundlage der spezifischen Charakteristik ihres Viertels. Schnell zeigte sich: Ideen zu teilen ist eine Sache, diese Ideen in einem bestimmten Gebiet zu verankern jedoch eine ganz andere. Das Nachbarschaftsgremium sorgte dafür, dass die Ideen einem angemessenen Realitätscheck unterzogen wurden, dass sie charakteristisch zu der Nachbarschaft passen würden, spezielle Bedürfnisse stillten und potenziell erfolgreich umsetzbar sein würden.
Die Charakteristik einer Nachbarschaft
Die Stadt ging sogar noch weiter. Die Verwaltung erstellte eine ausführliche “DNA-Analyse” für jedes ihrer Viertel, darin waren die wichtigsten Statistiken, Stärken, Schwerpunkte und Schwachstellen des jeweiligen Stadtteils verzeichnet. Zum Beispiel: Wie viel Prozent der Genter Bevölkerung wohnt in diesem Viertel? Wie ist die soziale Zusammensetzung? Was sind die besonderen Merkmale dieses Viertels?
Diese Berichte, die mit Fotos, Zitaten und Grafiken versehen wurden, konnten auf der Website und der Plattform der Stadt eingesehen werden. Eine zuverlässige Grundlage, um die dringendsten Bedürfnisse der einzelnen Stadtteile zu ermitteln.
Wenn Städte ein Nachbarschaftsprojekt in Angriff nehmen wollen, besteht der erste ratsame (und logische) Schritt darin, den Status Quo zu untersuchen und zu verstehen. Was die in Gent durchgeführte Nachbarschafts-Analyse besonders stark gemacht hat, war, dass sie über die klassischen Messwerte hinausging. Nur so konnten Schwachstellen in einigen Vierteln aufgedeckt werden, die es sonst kaum in eine Statistik schaffen. Ein Beispiel: das Gefühl der Einsamkeit unter der älteren Bevölkerung. Jetzt, da dieses Problem erkannt worden war, konnte man auch spezielle Lösungen erarbeiten.
Beteiligung und 500 Ideen
Schon in der ersten Phase des „Wijkbudget“, die zunächst 11 von insgesamt 25 Stadtteilen umfasste, besuchten über 13.000 Bürger:innen die Beteiligungsplattform der Stadt. 3 340 Personen und Organisationen registrierten sich und am Ende dieser ersten Runde waren 500 Ideen eingegangen, wovon 472 analysiert und ausgearbeitet wurden.
Die Stadt beschloss, den Einwohner:innen bereits in dieser ersten Phase die Möglichkeit zu geben, für ihre Lieblingsideen zu votieren. Einige Ideen, wie die Einrichtung eines ‚Groen Spoor‘ (Grüner Pfad) in Sint-Amandsberg, erhielten mehr als 150 Stimmen.
Als nächstes: Bürger und Bürgerinnen zusammen am Tisch
Im Anschluss wurden die gemeinsamen Ideen auf ihre Relevanz und Durchführbarkeit hin analysiert. Dafür organisierte die Stadtverwaltung „Dialoogtafeln“ – auf diesem ‘Tisch des Dialogs’ kamen die Ideen und Projekte zur weiteren Ausarbeitung. Die Bürgerinnen und Bürger konnten sich freiwillig zur Teilnahme an diesen Dialoogtafeln anmelden. Die Veränderungen, die in den nächsten Jahren in Gent passieren werden, wurden angekurbelt zusammen mit den Bürger:innen der Stadt. Nach dieser Erfahrung ist Gent noch mehr ihre Stadt. Die Stadtverwaltung hat die Beteiligung vorbildlich umgesetzt!
Und wird ihre digitale Beteiligungsplattform weiter für Projekte wie das Nachbarschaftsbudget nutzen. Aber auch andere Partizipationsprojekte sind geplant. Eine Bürgerbefragung über die Standorte von 2.000 Ladestationen für Elektroautos. Und vieles andere auch.
Gent hat ein Gespür für Partizipation entwickelt und mit der Beteiligung der Bürger:innen gezeigt, dass die Stadt besser wird, wenn sich alle zusammen für sie einsetzen.
Möchten auch Sie mit Bürgerhaushalt starten?
Beginnen Sie doch mit unserem Artikel: In 8 Schritten zu einem effektiven Bürgerhaushalt. Darin erklären wir,
- wie man die geeignete Beteiligungsmethode wählt;
- was die Partizipationsleiter über Grade der Beteiligung verrät
- auf welchen konkreten Schritten erfolgreiche Beteiligung aufbaut